Lieber Herr L. !
heute morgen erhielten wir Besuch von Aminata Djiba aus dem Nachbarort Thiaroye, einer entfernten Cousine meiner Frau. Ihre Sorgenfalten, die mehrfach ermattende Stimme und der schwache Tonus sagten uns mehr als Worte, dass sie in großer Sorge zu uns gekommen war. Ihre Beunruhigung rührt seit vier Jahren von der Hemiplegie ihres Mannes her, der keiner Arbeit mehr nachgehen kann und sich in sein Heimatdorf in der Region Saloum zurückgezogen hat. Aminata hat sich bislang mit Haustürverkäufen durchgeschlagen, ihre vier Kinder zwischen acht und zwölf Jahren in eine kostenlose Koranschule geschickt und gehofft, dass die traditionelle Medizin auf dem Dorf zu einer Besserung des Gesundheitszustandes beitragen könnte. Heute Morgen dann hatte ihr der Wohnungsbesitzer eine große Szene vor versammelter Nachbarschaft gemacht, weil sie nun im vierten Monat die Miete (30 €) nicht gezahlt hat. Wir waren wohl ihre letzte Hoffnung, weil inzwischen alle Ersparnisse aufgebraucht sind.
Zunächst habe ich mich bei meiner Frau telefonisch erkundigt, ob es sich auch um einen authentischen Notfall handelt oder um eine Inszenierung wie neulich, als ein »armer« Verwandter meine Reisspende ablehnte, weil es sich nicht schicke, mit geschenktem Reis durch die Gegend zu ziehen. Nein, Aminata gehört nicht in diese Kategorie; ihr Schicksal war meiner Frau bekannt.
Zurück am großen Tisch in der Eingangshalle habe ich Aminata dann nach ihren Plänen befragt. Sie antwortete, dass sie – wenn sie denn die ausstehende Miete bezahlen könnte – mit den Kindern schnell in das Dorf ihres Mannes ziehen werde. Die Stadt sein zu teuer und außerdem benötige ihr Mann sicherlich ihre Hilfe. Ich habe Aminata dann gesagt, dass ich ihr einmal helfen könne und dass sie in der Tat nicht weiter eine Wohnung in der Stadt mieten solle. Dann habe ich noch zugefügt, dass sie die Hilfe einem Freund aus Deutschland verdanke, der mir für den Notfall zu Weihnachten eine Spende zur Verfügung gestellt hätte.
Bevor Aminata rechtzeitig zur Mittagspause ihrer Kinder wieder den Heimweg antrat, habe ich sie allerdings noch nach Brüdern oder Schwestern gefragt. Ja, da gäbe es den Mahmadou, der sich mit Reparaturen von Kühlschränken durchschlage. (Das bedeutet: ausgemusterte Exemplare aus europäischer Entsorgung.) Aber seine Geschäfte liefen nicht gut. Und dann wäre da noch Malik, der Älteste. (Meine Tochter ergänzte später, dass sei der, der ihr das Grundstück aus dem väterlichen Erbe entwendet hätte.) Aber der habe sich seit einer Ewigkeit nicht mehr blicken lassen. »Weißt Du, wenn es dir hier in Senegal nicht gut geht, dann kümmert sich kein Mensch mehr um dich!«
So zog Aminata denn von meiner Tochter für ein paar Meter begleitet von dannen, den Kopf unter einem dünnen, langen, verblichen-altblauen Tuch, auf einer Seite über die Schulter zurückgeschlagen; in der Hand einen ehemaligen Farbeimer, weiß mit hellblauem Deckel, halb gefüllt mit Reis, darauf ein Kopf Weißkohl und dazu – gut im Reis versteckt – der rettende Briefumschlag in einer kleinen Plastiktüte. Aminatas gezämte Enttäuschung über die ausgebliebene Familienhilfe hat mich natürlich nachdenklich gestimmt.
Die offizielle Lesart lautet hier, dass die afrikanische Familie stark sei und man stolz darauf sein könne, nicht wie in modernen Gesellschaften individualistisch zu denken. Nun blicke ich ja tief in viele Familien hinein und halte es bei so großen Entitäten wie »Familien«, »Volk«, »Nation« oder »Religion« zunächst einmal eher mit der Gaußschen Normalverteilung. Doch fiel mir dann auch ein, dass ein paar Kilometer von unserem Ort entfernt, in Keur Moussa, vor mehr als fünfzig Jahren kontemplative Benediktinermönche eine Abtei gegründet haben – nahe eines zu hundert Prozent muslimischen Dorfes. Bald bat man die Brüder um Hilfe in Krankheitsfällen. Inzwischen ist aus dem Hilfeersuchen eine Krankenstation mit täglich bis zu zweihundert Patienten aus fünfzig Dörfern hervorgegangen, geleitet allerdings von Nonnen. (Ihr Siegel: « Sigíllum congregatiónis sorórum ancillárum páuperum Ordo Sancti Benedícti ») Ich habe mich natürlich auch nach muslimischen Pendants erkundigt. Aber die bittere Wahrheit ist wohl, dass die reichen Ölquellenbesitzer sich immer spendabel zeigen, wenn es um Moscheen und Waffen geht, ansonsten aber der Ruf des Muezzins, der fünfmal pro Tag Gottes Größe und sein Erbarmen mitteilt, an vielen höheren Orten unerhört bleibt. Und leider ebenso in so mancher Familie. Auch die Schwestern des katholischen Waisenhauses in Dakar (Franziskanerinnen von der Marienmission) können davon berichten, dass die christliche Minderheit vor allem für Muslime karitativ tätig ist. Dasselbe Bild im Stadtviertel Ziguinchor-Lyndiane an unserem zweiten Wohnsitz in der Südprovinz des Landes Casamance: »Wir sind für alle Menschen da!«, sagen die Josefsschwestern. Ein Grundsatz, der des Öfteren durch künstliche administrative Barrieren oder Undank hart auf die Probe gestellt wird.
Lieber Herr L., ich habe ein wenig ausgeholt, um dem Pekuniären eine lebendige Gestalt zu geben. Sie können sicher sein, dass Ihre Spende Not gelindert hat. Ich habe mich gefreut sie überreichen zu können und leite den Freudenstrahl dieser Hilfe gerne nach Norden.
Herzliche Grüße aus Senegal sendet Ihnen
Hans Georg Tangemann